Forschungsprojekt "Subjekt und Wahrheit. Die systematischen Grundlagen des Verhältnisses von natürlicher Vernunfterkenntnis und Offenbarungstheologie in den lateinischen Schriften Meister Eckharts"

Meister Eckharts spekulativer Denkansatz entfaltet sich an der Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert, also zu einer Zeit, in der sich vor dem Hintergrund der aristotelischen Wissenschaftstheorie und der Averroismuskrise die Trennung von Theologie und Philosophie als zwei separaten wissenschaftlichen Disziplinen mit eigenen, genau abgegrenzten Zuständigkeitsbereichen eingebürgert hat. Obwohl Eckhart aufgrund seiner Studien- und Lehrtätigkeit an der Pariser Universität mit den dortigen intellektuellen Auseinandersetzungen um Wesen und Aufgabe der Theologie bestens vertraut ist, hebt sich sein systematischer Grundentwurf doch deutlich von den Konzeptionen seiner Zeitgenossen ab. So übernimmt er ausdrücklich nicht das Schema eines horizontalen Nebeneinanders von Theologie und Philosophie, das von der Vorstellung eines irreduziblen Eigengehaltes der historischen Schriftoffenbarung gegenüber der begrifflich-universalen Erkenntnis der natürlichen Vernunft getragen ist. Ebenso wenig propagiert Eckhart jedoch eine Rückkehr zum augustinischen Paradigma einer christlichen Einheitswissenschaft, bei der die Profanwissenschaften nur insofern von Bedeutung sind, als sie zu einem besseren Verständnis der Hl. Schrift beitragen.

Vielmehr entwickelt Eckhart einen dritten Ansatz, der das statische Nebeneinander von Wissenschaften mit je eigenen Gegenstandsbereichen, Prinzipien und Methoden zugunsten einer Konzeption unterläuft, die alle Erkenntnis letztlich in den lebendigen Vollzug des intellektuellen Ich zurücknimmt. Die Beziehungen zwischen den einzelnen Wissenschafts- und Erkenntnisformen lassen sich damit nicht ein für allemal in definitorischer Weise bestimmen, sondern haben die Form einer beständig neu zu vollziehenden Aufgabe, bei der es darum geht, einzelne Verse des biblischen Textes in metaphysische, naturphilosophische, ethische und juristische Aussagen zu übersetzen. Diese besonders geartete wissenschaftliche Architektonik bringt Eckharts Grundüberzeugung zum Ausdruck, dass die Offenbarung des Alten und Neuen Testaments im Kern keinen anderen Inhalt hat als die aristotelische Philosophie. Was variiert, sind allein die Formen der Darlegung und Argumentation, doch gibt es prinzipiell keine historisch-positive Offenbarungswahrheit, die sich nicht in eine Vernunftwahrheit übersetzen ließe. Wahrheit ist damit letztlich ein dynamischer Vollzug, der darin besteht, dass sich das denkende Subjekt im Durchgang durch die verschiedenen Wissenschaftsformen seiner selbst als des Grundes aller objektivierenden Erkenntnis innewird. Das bedeutet aber auch, dass das Ich als solches kein bloßer Teil der von ihm erkannten Wirklichkeit ist und daher auch nicht mittels der aristotelischen Kategorienordnung thematisiert werden kann, die für die Sphäre des naturhaften Seins Gültigkeit besitzt. Vielmehr müssen die Kategorien des Geistes vom Denken selbst erzeugt werden, wobei das Verhältnis von Individualität und Universalität auf andere Weise zu fassen ist als nach dem Schema der Subsumption numerisch verschiedener Einzelwesen unter einen gemeinsamen Artbegriff. Bei Eckhart wird daher die Ordnung der aristotelischen Kategorien als der obersten Gattungen (genera) in die beständige Selbstauszeugung (generatio) des Ich zurückgenommen, das als absoluter Indifferenzpunkt der Unterscheidung zwischen Gott und Schöpfung noch vorgeordnet ist und zugleich aus seiner selbstbezüglichen Einheit und Einzigkeit die für den Geist grundlegenden Kategorien von Gleichheit und Unterschiedenheit überhaupt erst entspringen lässt.

Ziel des Habilitationsprojektes ist es, diese systematischen Tiefenstrukturen von Eckharts wissenschaftstheoretischem Ansatz herauszuarbeiten und dabei aufzuzeigen, inwiefern dieser Entwurf gerade heute von besonderer Relevanz nicht nur für den interreligiösen Dialog, sondern auch und vor allem für die Verständigung zwischen säkularem und religiös geprägtem Denken insgesamt ist. Das Spezifikum von Eckharts Ansatz liegt darin, dass er auf der Grundlage seiner besonders gearteten, egologisch begründeten Wissenschaftstheorie die Vorstellung eines heteronomen Offenbarungsbegriffes einer prinzipiellen Revision unterzieht. Gleichsam in einer Vorwegnahme der aufklärerischen Religionskritik unterstreicht Eckhart dabei, dass Offenbarungsglaube nicht in der Bezogenheit auf äußere, historische Fakten besteht, sondern dass vielmehr alle faktische Wirklichkeit als exemplarischer Ausdruck von universalen Gesetzmäßigkeiten gedeutet werden muss, die als solche der natürlichen Vernunft jedes Menschen, unabhängig von seiner religiösen Einstellung, zugänglich sind. Das Forschungsprojekt will somit aufzeigen, dass bei Eckhart die Gottesfrage letztlich in die Frage nach dem Ich in seiner Autonomie gegenüber der Naturwirklichkeit, seiner intellektuellen Selbsterkenntnis und seiner existentiellen Selbstverwirklichung zurückgenommen werden muss. Eckharts philosophisch-theologischer Grundentwurf ist damit ein wichtiges Beispiel dafür, dass eine Kritik am herkömmlichen Verständnis von Offenbarung nicht notwendigerweise von außen an die Religion herangetragen werden muss, sondern sich ebenso auch aus einer immanenten Radikalisierung und konsequenten Weiterentwicklung des christlichen Denkens entwickeln lässt.