Die visuelle Kultur des Sufismus in Wien: Einblicke in die Blickkultur des mystischen Islam am Beispiel der Halveti-Dscherrahi und der Chishti
Projektleiter: Univ.-Prof. MMMMag. Dr. Lukas K. Pokorny, M.A.
Laufzeit: 1. Jänner 2017 – 30. Juni 2017
Projektfinanzierung: Kulturabteilung der Stadt Wien, Wissenschafts- und Forschungsförderung (MA7 – 1007867/16)
Mitarbeiter: Dr. Sara Kuehn, B.A. M.A.
In der Auseinandersetzung mit dem Islam ist dessen Mystik eine bedeutende Brücke. Ziel des aktuellen Forschungsprojektes ist es, Einblicke in einen wichtigen Bereich der religiösen visuellen Kultur (oder Bildwissenschaft) des „mystischen Islam“ oder Sufismus in Wien zu geben. Obwohl der Islam, ebenso wie auch das Judentum und das Christentum, eine Tradition des Bilderverbots und der Bildzerstörung hat, spielen in dieser religiösen Lebensbewältigungspraxis Bilder eine wesentliche Rolle. Sie organisieren die Kommunikation mit der transzendenten Instanz, sie dienen dem Aufbau eines kollektiven Gedächtnisses und sie erzeugen religiöse Bedeutung, indem sie über die Imagination das religiöse Sinnsystem mit den Gefühlen des Betrachters verbinden. Visuelle Zeichen formen und begrenzen dann den Spielraum der identitätsbildenden Kräfte, der sie ihre Entstehung verdanken.
Die Geschichte der monotheistischen Bilddebatten ist geprägt von wechselseitigen Abgrenzungen, Zuschreibungen und Identifikationen – von der Entstehungszeit der Religionen bis heute. Der Streit um die sogenannten Muhammed-Karikaturen der dänischen Zeitung Jyllands-Posten in 2005 und 2006 oder die Zerstörung der Bamiyan-Buddhas durch Taliban-Milizen in Afghanistan in 2001 lässt jedoch bisweilen die visuelle Seite des Islam in den Hintergrund treten.
Die Karikaturen, Hauptursache für mehrere Terroranschläge, nicht nur in europäischen sondern auch in nicht-westlichen Ländern, waren oft Gegenstand kontrovers geführter Diskussionen über das mutmaßliche Bilderverbot im Islam. Das Vorurteil, dass der Koran Bilder verbietet und die islamische Kunst der Ikonophobie nachgeht, wird oft mit dem Diskurs über die Bedrohung durch die „Islamisierung“ des zeitgenössischen westeuropäischen Lebens in Verbindung gebracht und in Debatten über die europäische Identität instrumentalisiert. Zur gleichen Zeit wird es von Islamisten als Rechtfertigung für die völlige Zerstörung von künstlerischem Erbe verwendet - versinnbildlicht durch die Zerstörungen von assyrischen und parthischen Skulpturen durch den IS im Museum von Mossul und der wichtigsten antiken Ruinen von Palmyra im vergangenen Jahr.
In diesem Zusammenhang ist es wichtig, einer interessierten Öffentlichkeit die visuelle und materielle Kultur der mystischen Elemente des islamischen Milieu zugänglich zu machen, die Gegenstand des Projektes sind. Diese entspringen der in der Sufi-Spiritualität angelegten Tendenzen, die Ansatz zur Relativierung der exoterischen Gestalt des Islam sein können. Innerhalb dieser mystischen Tradition wurde eine symbolische Bildsprache kultiviert, die ein wichtiger Bedeutungsträger ist. Dabei wird auch deutlich, dass sich theologische Dogmen und populäre Praxis nicht notwendigerweise entsprechen.
Es ist eine zu beachtende Tatsache, dass es in Wien eine Vielzahl von Sufi-Gruppen gibt. Hierbei sind jene Gruppen, die sich zum Islam bekennen, von jenen Tendenzen zu unterscheiden, die diese Glaubenszugehörigkeit als gar nicht mehr essentiell betrachten. Hinsichtlich der ersteren kann gesagt werden, dass de facto alle großen klassischen Orden in Wien vertreten sind, deren Mitglieder sich einerseits aus Muslimen rekrutieren, die aus islamischen Ländern stammen, andererseits aus Konvertiten, die am Islam vor allem den Sufismus attraktiv finden. Die Grundlagen des Sufismus bilden hier die sechs Artikel des islamischen Glaubensbekenntnisses, das die Anerkennung des islamischen Propheten Muhammads und des Korans als unabdingbar voraussetzt. Außer den islamischen Bruderschaften gibt es Gruppierungen, die versuchen Sufi-Spiritualität der westlichen Welt in einem nichtislamischen Kontext zu übermitteln. Die visuelle Kultur zweier Beispiele von solchen Orden sollen in diesem Projekt untersucht werden. Trotz kritischer Anfragen von Seiten orthodoxer islamischer Kreise, verstehen sich diese modernen Sufis als Erben des klassischen Sufismus, besonders auch in Hinsicht auf seine universalistischen, die Grenzen des herkömmlichen Islam sprengenden Auffassungen.
Gegenstand des Forschungsvorhabens ist zunächst die visuelle Kultur der Dscherrahi in Wien, einer der zahlreichen klassischen Sufi-Orden innerhalb des Islam und ein Zweig der Halveti (arabisch: Khalwati) Bruderschaft. International ist sie hauptsächlich unter der Schreibweise Jerrahi bekannt, in der Türkei unter Cerrahî. Der internationale Bekanntheitsgrad des Ordens bei einem westlichen Publikum gründet auf Muzaffer Ozak al-Dscherrahi al-Halveti (1916–1985), charismatischer Sheikh des Dscherrahi-Derwisch-Ordens in Istanbul und 19. Nachfolger des Ordensgründers Pir Nureddin al-Dscherrahi al-Halveti, der ab Ende der 1970er Jahre mehrere Reisen nach West-Europa und in die USA unternahm, um dort die Derwisch-Zeremonie der Öffentlichkeit vorzustellen. Durch seine Reisen konnte er eine große Anzahl an Anhängern auf sämtlichen Kontinenten gewinnen. Die visuelle Kultur der in Wien ansässigen Gruppen dieses Sufi-Ordens, die sich zu gemeinschaftlichen meditativen Übungen zur Vergegenwärtigung Gottes (dhikr) und andere spirituelle und zeremonielle Rituale treffen, ist Gegenstand dieser Forschungsarbeit.
Es ist jedoch kaum möglich, die universal-religiösen Ideen des Neosufismus ohne jegliche Zurkenntnisnahme des heutigen Selbstverständnisses klassischer Sufi-Orden angemessen zu verstehen. Als dessen bedeutendster Repräsentant, gilt heute der dem gemäßigt-islamischen Chishti-Orden zugehörige Zia Inayat Khan. Dies ist der zweite in Wien ansässige Orden, dessen visuelle Kultur Thema meiner Untersuchung sein wird. Zia Inayat Khan baut auf das Lebenswerk seines Großvaters Hazrat Inayat Khan (1882–1927), der schon zu Beginn des Jahrhunderts in Nordamerika und später in Europa wirkte, und Vaters Vilayat Inayat Khan (1916–2004), der in Europa den Internationalen Sufi-Orden leitete. Ihre Lehre ist von einem universalistischen Religionsverständnis geprägt, die die mystische Einheitserfahrung der Offenbarungsgeschichte propagiert. Im Gegensatz zu den islamisch-orthodoxen Dscherrahi-Halveti versteht sich die Mitgliedschaft dieser spirituellen Bewegung als eine Gruppe von Menschen aus verschiedenen Religionen, deren universalistische Intentionen sich u.a. durch einen universellen Gottesdienst zeigen. Die in Wien bestehenden Meditationsgruppen sowie Gruppen des Sufi-Heilordens sind Gegenstand dieser Forschungsarbeit. Besondere Beachtung finden die spirituellen Kompetenzen des weiblichen Elements im Sufismus; das Amt des Geistlichen und dessen gottesdienstliche und seelsorgerlich-beratende Aufgaben sind bei dem Internationalen Sufi-Orden nach Hazrat Inayat Khan beiden Geschlechtern offen.
Ein gemeinsames Merkmal beider Orden ist die Ermöglichung von außergewöhnlichen Erlebnissen und Erfahrungen, die die üblichen, reglementierten Formen religiöser Erfahrung überschreiten, in Form von außergewöhnlichen Bewusstseinszuständen, mystischer Erfahrung oder in Gestalt von Ekstaseerlebnissen, deren grundlegendes Phänomen die Trance ist. Eine zentrale Arbeitshypothese dieser Arbeit ist, dass visuelle Kultur und Religionspraxis eine Gegenbewegung zu religiösem Fundamentalismus und ein Motor religiöser Pluralisierung ist.