Gastvortrag und Workshop von Karlheinz Ruhstorfer „Produktive Konstellation. Zur Dia-Lektik von Wissen und Glauben in Europa“
Am 14. 06. 2022 hielt Karlheinz Ruhstorfer, Professor für Dogmatik an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, am Forschungszentrum Religion and Transformation einen Workshop sowie einen Gastvortrag zum Thema „Produktive Konstellation. Zur Dia-Lektik von Wissen und Glauben in Europa“. Ruhstorfer zeigte auf, dass es nach der Verabschiedung großer Erzählungen in der Postmoderne, gegenwärtig die Notwendigkeit gäbe, einem neuen Bedürfnis nach Orientierungswissen durch umfassende Erzählungen („big story“) zu entsprechen. Eine solche Erzählung dürfe weder hinter die in der Postmoderne erreichten Einsichten zurückfallen noch den eigenen kontingenten Standpunkt verleugnen. Doch sie könne dazu führen, die Gegenwart in eine pro-duktive – im Sinne einer „Neues hervorbringenden“ – Konstellation zur Geschichte des Denkens zu versetzen. Dieser Zugang verlange nach Ruhstorfer nicht nur eine genauere historische Kontextualisierung von Dekonstruktion und Postmoderne, sondern vor allem einen geschichtstheologischen Zugang, welcher die Geschichtlichkeit der Vernunft ebenso bedenkt wie die stufenweise Offenbarung Gottes in der Geschichte. Die Frage, was sich einer jeweiligen Gegenwart aus der Geschichte her zuspricht, sei von großer Bedeutung und verlange, die jeweilige Fassung in der sich das Absolute einer Wissens- und Glaubensepoche zeigt, ernst zu nehmen und zur Sprache zu bringen. Die verschiedenen Fassungen des Absoluten und damit verschiedene Konstellationen von Wissen und Glauben in der Denkgeschichte Europas, analysierte Ruhstorfer mit den Kategorien von Identität und Differenz, die hierbei allerdings nur als eine – nicht als ausschließliche – Möglichkeit zur Bestimmung herangezogen wurden. Verschiedene epochale Fassungen von Identität und Differenz vom biblischen und griechischen Denken der Antike bis hin zu Neuzeit und Dekonstruktion wurden in ihren wesentlichen Konturen nachgezeichnet. Im Zuge dessen wurde zu bedenken gegeben, das sämtliche Fassungen von Identität und Differenz, einschließlich der Radikalisierung der Differenz in der Philosophie der Neuzeit und selbst die différance (in der Modalität der Spur des Verlöschens der Spur) noch als Echo der biblischen Erzählung gelesen werden könnten. Die Möglichkeit der Bibel als einer Meta-Erzählung, führe allerdings nicht in eine alles vereinigende Synthese, vielmehr wurde der Blick geschärft für Kon-stellationen, verstanden als produktive Zusammenstellungen geschichtlicher Ausformungen von Wissen und Glauben, die zugleich die Alterität der jeweils anderen wahrt. Eine Dia-Lektik von Wissen und Glauben könne in der Weise eines „Durchsprechens“ und Erzählens dazu beitragen, von dem Missverständnis einer rein destruktiven Haltung zur Geschichte zur Haltung eines schonenden und pflegenden Umgangs mit der geistigen Schöpfung überzugehen.