Offenbarung, Manifestation, Erscheinung. Philosophische und theologische Überlegungen über das Dasein Gottes am Rand der Anweisung zum seligen Leben Fichtes
Am 8. und 9. Oktober fand am Forschungszentrum Religion and Transformation die Tagung mit dem Titel „Offenbarung, Manifestation, Erscheinung. Philosophische und theologische Überlegungen über das Dasein Gottes am Rand der Anweisung zum seligen Leben Fichtes“ statt. Die Organisation der Veranstaltung wurde von Daniel Kuran, Maurizio M. Malimpensa und Maurizio Trudu betreut und war das Ergebnis der wissenschaftlichen und materiellen Zusammenarbeit der folgenden Institutionen und Forschungseinrichtungen: Università degli Studi di Ferrara, Universität Wien, Archivbibliothek für Post-Neukantianismus und kritischen Idealismus der Gegenwart, Istituto Italiano per gli Studi Filosofici, Laboratorio di Filosofia Trascendentale e Fenomenologia, Religion and Transformation in Contemporary Society, Rete Italiana per la Ricerca su Fichte und School of Religious Studies (McGill University). Die zweitägige Veranstaltung war so gegliedert, dass am Dienstag und Mittwochvormittag jeweils die Vorträge von Prof. Alexander Schnell (Bergische Universität Wuppertal) und Prof. Marco Ivaldo (emeritiert der Universität Neapel Federico II) stattfanden, während am Nachmittag kürzere Beiträge von Forschern und Doktoranden präsentiert wurden. Wie im Titel der Veranstaltung bereits angedeutet, konzentrierten sich die Überlegungen der Teilnehmer auf ein zentrales Thema, nämlich die Beziehung zwischen dem Absoluten und seiner Manifestation oder, um die Terminologie des Fichte’schen Textes zu verwenden, der den Leitfaden der meisten Vorträge bildete, zwischen Sein und Dasein. Beide Hauptvorträge konzentrierten sich auf die ersten fünf Vorlesungen der Anweisung zum seligen Leben und zeigten, dass Fichtes Position nicht nur einen historisch bedeutsamen Ort für die Beobachtung der Konvergenz von Philosophie und Theologie in Bezug auf die grundlegenden Fragen des menschlichen Denkens und Erlebens darstellt, sondern auch, dass Fichtes Theorie nach wie vor eine unverzichtbare konzeptuelle Ressource für die zeitgenössische Reflexion zu diesen Themen bietet. Alexander Schnell präzisierte in den Diskussionsrunden die Notwendigkeit, dass die zeitgenössische Phänomenologie nicht zu einem bloßen Phänomenalismus verkommt, sondern zu einer radikalen Begründung der Erfahrung im absoluten Prinzip gelangt, und skizzierte seine originelle philosophische Position, die er selbst als „theo-ontologisch“ bezeichnete. Marco Ivaldo, der die Perspektive der Fichte’schen Wissenschaftslehre als „transzendentale Ontologie“ charakterisierte, schlug eine Reihe von Überlegungen vor, die mit denen von Schnell deutlich im Einklang standen, indem er die wichtige Wiederaufnahme von Fichtes Position durch Reinhard Lauth im 20. Jahrhundert und dessen Versuch einer Systematisierung und Aktualisierung der Wissenschaftslehre in seiner Theorie des philosophischen Arguments hervorhob.
Unter den Beiträgen der jungen Wissenschaftler nahmen einige einen direkten Vergleich mit Fichtes Text als Ausgangspunkt, während andere seine möglichen Einflüsse auf nachfolgende Autoren und Denkkonstellationen betrachteten. Am Dienstag zeigte Michael Boch (Bergische Universität Wuppertal/Universität Wien), dass der von Fichte dargelegte kompromisslose Monismus nicht starr zu verstehen ist – als wäre es eine neue Form von Eleatismus –, sondern als ein Denken, das gerade die Mannigfaltigkeit und die Differenz, die das Wesen der Erfahrung ausmachen, begreifbar macht; Maurizio Trudu (Universität Ferrara/Bergische Universität Wuppertal) konzentrierte sich anschließend auf die zirkuläre Struktur von Fichtes Denken – vom Leben zur Wissenschaft und von dieser wieder zurück zum Leben – und auf die Bedeutung des Gründungsaktes, den die transzendentale Philosophie vollzieht, und zeigte dessen tiefe Übereinstimmung mit der Idee der Phänomenologie bei Husserl auf; Daniel Kuran (Universität Wien) bot wichtige Überlegungen zur Wissenschaft der Logik von Hegel an, um Ähnlichkeiten und Unterschiede in der Auffassung dieser beiden Autoren über den Begriff der Manifestation aufzuzeigen; Noemi Call (Universität Wien) zeigte, wie auch bei einem zeitgenössischen Autor wie Hans-Dieter Bahr der Dialektik zwischen Denken und Imaginärem eine entscheidende Rolle zukommt und wie es unmöglich ist, diese beiden Begriffe abstrakt zu fassen, indem sie die traditionell gezogenen Grenzen zwischen künstlerischem und rigorosem Denken in Frage stellte. Am Mittwoch stellte Maurizio M. Malimpensa (Universität Ferrara) Fichtes Christologie vor und betonte die unaufhebbare Polarität von „Historischem“ und „Metaphysischem“ als charakteristisches Merkmal der Fichte’schen Religionslehre; Marco Fiorletta (Universität Rom La Sapienza/Universität Wien) schlug vor, das Verhältnis von Bild und Absolutem durch die Kategorie des „halboffenen Bildes“ zu interpretieren, indem er auf die spezifische Weise Bezug nahm, in der Hölderlin die Fragilität des symbolischen und poetischen Mittels in seiner Mission, seinen absoluten Inhalt zu bezeugen, erlebte und darstellte, und verwies dabei auf einige Texte des Homburger Foliohefts, insbesondere auf die Hymne Patmos; schließlich zeigte Angela Renzi (Universität Molise), dass Fichtes Konzept der Liebe in den ersten Vorlesungen der Anweisung zum seligen Leben nicht nur spekulative Relevanz besitzt, sondern auch eine konkrete praktische, politische und pädagogische Bedeutung hat, und zeigte dessen Erbe in Paul Ricoeurs Position auf.
An der Tagung nahmen als Moderatoren und Diskutanten auch Mattia Coser, Jakob Deibl und Marian Weingartshofer teil.
Neben einer reichen Erfahrung wissenschaftlicher Forschung und dialogischer Meditation war die Tagung auch, wenn auch unbeabsichtigt, eine Gelegenheit für einen bewegenden biografischen Moment: Alexander Schnell erinnerte daran, dass er Marco Ivaldo genau vor zwanzig Jahren bei einem Kongress der Internationalen Fichte-Gesellschaft in Poitiers kennengelernt hatte, und zollte dem emeritierten Professor seinen tief empfundenen Respekt, indem er ihm eine wichtige Rolle sowohl bei der Reifung seiner Fähigkeiten als Fichte-Interpret als auch als eigenständiger Denker zuschrieb. Seine Dankes- und Zuneigungserklärung schloss er mit den Worten: „Ich bin ein Ivaldianer“, worauf eine spontane Umarmung der beiden Gelehrten folgte.