Ein Bericht über den RaT-Studientag am 24.11.23

Am 24. November fand ein weiterer RaT-Studientag im Stift Melk statt. Besonderer Dank für die Organisation und Moderation der Veranstaltung gilt Noemi Call und auch Marian Weingartshofer, darüber hinaus Jakob Deibl und dem Stift Melk als unsere Gastgeber. Die Veranstaltung stand, wie bereits das letzte Treffen am 31. Januar, unter dem Motto „Religious Exits“, das aktuelle Forschungsschwerpunkt des Zentrums, welches zu Beginn von Kurt Appel auch vorgestellt wurde. Wichtig war es uns dieses mal, den neuen Zentrumsmitgliedern die Gelegenheit zu bieten, einen Einblick in ihre aktuelle religionsbezogene Forschung zu geben.

Der erste Vortrag von Fabio Wolkenstein thematisierte die Wandlungen der deutschen und österreichischen Christdemokratie in den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts. Dabei zeigte er auf, wie zu dieser Zeit als Reaktion auf die gesellschaftlichen Veränderungen (Stichwort: 68er-Bewegung) und den (relativen) Machtverlust eine doppelte Bewegung in Richtung gesellschaftspolitischer Öffnung einerseits und internationaler Vernetzung andererseits einsetzte. Anschließend gab Regina Polak Einblicke in neueste Ergebnisse der von ihr mitorganisieren „Europäischen Wertestudie“. Im Mittelpunkt stand dabei die Frage nach dem Verhältnis von Religiosität und der Zustimmung zu demokratischen Werten. Dabei zeigt sich, so Polak, ein ambivalentes Bild: Während einerseits starke Identifikation mit Religion häufig mit antidemokratischen Haltungen einhergeht, so gilt umgekehrt, dass jene, die sich nicht bloß als religiös bekennen, sondern in ihrem Alltag in religiösen Praktiken eingebunden sind, überdurchschnittlich häufig zu Befürworter*innen der Demokratie zählen.

Nach diesem ersten sozialwissenschaftlich ausgerichteten Themenblock präsentiere die, vor kurzem neu als RaT-Mitglied aufgenommene, an der Afrikanistik lehrende Historikerin Kirsten Rüther, den aktuellen Zwischenstand eines Forschungsprojekts, in dem sie sich mit Bildquellen aus dem Archiv der norwegischen Mission in Südafrika beschäftigt: Dabei stellte sie heraus, wie in der Arbeit mit in einem kolonialen Kontext entstandenen Bildern einerseits Reproduktionen rassistisch geprägter Machtverhältnisse sichtbar werden, andererseits aber auch, bei genauerem Hinsehen, subversive und egalitäre Aspekte entdeckt werden können. Im Anschluss oder gab Fabian Völker Einblicke in die Mystik-Forschung: Seit dem späten 19. Jahrhundert ist die Frage der Definition der Mystik umstritten. In seinen eigenen Beiträgen zu dieser Debatte plädiert er einerseits dafür, den die Struktur der Alltagserfahrung überschreitenden Charakter des Phänomens zu berücksichtigen. Gleichzeitig ist es ihm ein Anliegen, die oft von Proponent*innen der Mystik getroffene Annahme der notwendig positiven moralischen Konsequenzen mystischer Erfahrungen kritisch zu hinterfragen.

Nach der Mittagspause folgten zwei Vorträge mit historischem Schwerpunkt: Zunächst stellte Uta Heil, Dekanin der evangelisch-theologischen Fakultät, ihre Forschung zur Entstehung der christlichen Sonntagskultur seit der Spätantike vor, die in eine öffentlich zugängliche Online-Datenbank eingespeist wurde. Dabei wurde ersichtlich, dass viele uns heute selbstverständlich erscheinende Aspekte, die den Sonntag als Feiertag kennzeichnen, sich in einer komplexen historischen Entwicklung herausgebildet haben, bei der die Abgrenzung zum Judentum, der pragmatisch-politische Zweck der Versammlung, der Versuch der Abwehr esoterischer Bedeutungsaufladung (Stichwort: Planetenwoche) und schließlich der Wegfall des römischen Festtagskalenders eine zentrale Rolle spielten. Danach gab Katharina Ivanyi einen Einblick in die islamische Rechtsgeschichte, genauer in die hanafitische Rechtsschule, die größte der vier traditionellen Schulen des sunnitischen Islams, die im 8. Jahrhundert unserer Zeitrechnung auf dem Gebiet des heutigen Irak entstand. Im Zuge ihres Vortrags wurde deutlich, welche komplexen Argumentationen und Strukturen sich hinter dem heute oft polemisch gebrauchten Begriff der „Scharia“ verbergen. Dabei wurde von Ivanyi auch die Spannung hervorgehoben, die zwischen den komplexen, an den Begriffen des Möglichen und Wahrscheinlichen orientierten Argumentationen und deren im Lauf der Zeit erfolgter Festlegung in kodifizierter Form besteht.

Anschließend referierte Deniz Cosan Eke über ihre Forschungen zur Religionsgemeinschaft der Aleviten, die bis heute vom türkischen Staat nicht anerkannt wird, obwohl sie die zweitgrößte religiöse Gruppe der Türkei bildet. In einer mehrjährigen ethnographischen Studie zu verschiedenen alevitischen Gemeinschaften in Deutschland konnte sie dabei beobachten, wie die Rituale des stark auf mündlicher Überlieferung basierenden Glaubens sich im Lauf der Zeit wandeln und wie komplex sich zugleich die Übersetzung der traditionellen und variantenreichen Strukturen des Alevitentums in die Erfordernisse des deutschen Religionsrechts gestaltet.

Der letzte Vortragsblock des Tages wurde von Wolfgang Treitler eröffnet, der über die zentrale These seines vor Kurzem in der RaT-Reihe erschienenen Buches Jesus, Josefs Sohn. Der Messias als Tor des Bundes berichtete: Jesus wird dabei im Lichte einer jüdisch-messianischen Tradition interpretiert, die ihn gerade nicht zum, das endgültige Heil bringenden, „Sohn Davids“ stilisiert und konsequenterweise auch die These seines Gottmenschentums ablehnen muss. Danach präsentierte Andrea Lehner-Hartmann, die aktuelle Dekanin der Katholisch-Theologischen Fakultät, ihre religionspädagogischen Thesen zu einer zeitgemäßen Konzeption des Religionsunterrichts: Der Religionsunterricht müsse sich demnach als Bildungsprozess und nicht als ein im Sinne der Informationsaufnahme verstandenes bloßes Lernen verstehen. Dies bedeute vor allem, einen offenen und angstfreien Reflexions- und Begegnungsraum für die Schüler*innen zu schaffen, in dem eine Begegnung zwischen verschiedenen Standpunkten und Ansprüchen stattfinden kann, bei der zugleich die titelgebende „Unverfügbarkeit“ des jeweils anderen gewahrt bleibt. Der letzte Vortrag von Martin Fieder machte deutlich, dass das Thema Religion auch in den Naturwissenschaften zunehmend auf Interesse stößt: In einer spannenden Tour de Force präsentierte der Evolutionsbiologe neueste Ergebnisse aus der Genomforschung über mögliche Zusammenhänge von Religion und Genetik.

Viele der Vortragenden haben das Thema „religious exits“ als Anregung wahrgenommen, ihre Forschung unter dieser Linse nochmals zu betrachten und daraus resultierende Fragen in die Diskussion einzuführen.   

Der lange und von spannenden Vorträgen und Diskussionen geprägte Tag wurde schließlich mit einer von Jakob Deibl geleiteten Führung durch das Stift und einem gemeinsamen Abendessen abgeschlossen.

Text von Marian Weingartshofer