"Bis eben war die Welt vollständig, jetzt fehlt etwas"
Der Schriftsteller Andreas Maier über sein Romanprojekt Ortsumgehung und den lieben Gott

Der deutsche Schriftsteller Andreas Maier setzt am 21. November 2017 die Reihe der Wiener Poetikvorlesungen fort. Maier kommt in seinen Büchern immer wieder auf den „lieben Gott“ als literarische Kommunikationsfigur zurück. Sein Vortrag steht unter dem Titel „Und Gott fiel die Leiter herab. Versuch über eine persönliche Sprachgenese“. Im Vorfeld entstand folgendes Gespräch mit Jan-Heiner Tück.

 

Herr Maier, in Ihrem Romanprojekt „Ortsumgehung“ lassen Sie die die versunkene Welt Ihrer Kindheit und Jugend in der Wetterau wieder auferstehen. Dabei spielt das Verhältnis von Leben und Schreiben eine wichtige Rolle. Der bunte Stoff des Lebens bietet Vorlagen für das Schreiben, umgekehrt geschieht im Schreiben eine poetische Verdichtung des Lebens. Wie würden Sie selbst dieses Verhältnis von Kunst und Leben, von Literatur und Biographie umschreiben?

 

Andreas Maier: Ich bin kein Schreibender, ich unterliege nicht diesem Zwang. Ich muß nicht täglich umformen, ich kann auch so leben. Daher kann ich mir Zeit lassen. Ich sehe meine Wetterauer-Gestalt eher wie einen Homunculus, den ich langsam zum Sprechen und zum Handeln bringe. Jetzt ist er etwa im fünften Semester. Das war nicht leicht, ihn dahin zu kriegen (ich habe dafür 8 Jahre gebraucht). Es ist ja nicht so, daß ich mein Leben aufschreiben würde. Ich konstruiere einen Prototyp meiner selbst, klarer als ich, überschaubarer, aber dennoch dadurch auch präsenter, prägnanter. Dafür benutze ich rein literarische Mittel, das merkt man an der Szenenkomposition und an den vielen Aussparungen. Die Bücher sind, auch wenn man es ihnen nicht anmerkt, äußerst dicht komponiert. Übrigens stimmt vieles mit der 'Realität' oder meiner eigenen faktischen Historie (bzw. der der anderen Personen) schon zeitlich überhaupt nicht überein. Fragen Sie mal meine Hauptfigur, die Tochter des Buchhändlers!

 

Sie lassen den Protagonisten nicht einfach am Leitfaden der Chronologie eine Entwicklung durchlaufen, sondern scheinen eher von Erinnerungsorten auszugehen. Wie schon der Name des Gesamtprojekts „Ortsumgehung“ so rufen auch die Einzeltitel der bisher erschienenen Bände „Das Zimmer“ (2010), „Das Haus“ (2011), „Die Straße“ (2013), „Der Ort“ (2015), „Der Kreis“ (2016) topographische Bezüge auf …

 

Die Chronologie ist in der Tat durchbrochen. Manche Bücher setzen wieder vorn, beim Kind, an. Deshalb schreibe ich ja auch kein zusammenhängendes Buch, sondern elf einzelne. Mein Protagonist wird also elfmal erzählt. Das führt zu ziemlich ungewöhnlichen Ergebnissen, ich habe so etwas noch nie gelesen. Immerhin strebe ich an, daß der Protagonist am Ende jeden Buches ein Stück älter als im vorigen geworden ist. Jetzt ist er bald dreißig. Die Titel sind übrigens nicht streng zu nehmen: „Das Zimmer“ zum Beispiel ist das meines Onkels, nicht mein Kinderzimmer.

 

Ihr Onkel J. ist eine wichtige Figur. Bei aller Absonderlichkeit, die in den Büchern nicht ausgespart wird, geben Sie ihn nicht der Lächerlichkeit preis, sondern lassen „Erbarmen mit dem Seziermesser“ (Arnold Stadler) walten. Ein Effekt dieses einfühlenden Verfahrens ist, dass die geläufige Unterscheidung zwischen ‚normal‘ und ‚behindert‘ brüchig wird und zwischen den Zeilen die Gegenfrage aufblitzt, ob die Normalen nicht selbst behindert sind.

 

Der Lächerlichkeit preisgeben sollten wir nur Menschen, die etwas mit Macht oder Stolz zu tun haben. Was Sie „aufblitzen“ sehen, ist für mich ein Hauptmotiv, seitdem ich überhaupt schreibe: Wir, die Normalen. Wir, die wir Macht haben, Möglichkeiten haben, konkurrieren können, andere ab- und verdrängen können. So war mein Onkel nicht. Ob er es nicht konnte oder nicht wollte, ist mir egal. Mein Onkel war neben seiner Mutter sicherlich der unverlogenste Mensch, den ich kennengelernt habe. Wir sind da alle anders, und wir wissen das.

 

Wir wissen das – und wollen es doch nicht wissen. Die Unverlogenen spiegeln uns das und sind daher oft unbequem. Vielleicht die unbequemste Gestalt ist der Jesus des Matthäus-Evangeliums. Sie haben ihn in Ihren Frankfurter Poetik-Vorlesungen ausführlich zu Wort kommen lassen. Das hat sicher auch verstört. Was fasziniert Sie an dieser Gestalt?

 

Die Unverlogenen sind normalerweise nicht unbequem, sondern Verlierer. Werden sie allerdings unbequem, dann werden sie vom Gegner ins eigene Boot geholt. Das geschah und geschieht natürlich auch mit Jesus von Nazareth. Jesus von Nazareth ist das Grundmuster für alles, für jede unserer Handlungen, wie sie sein sollten oder mit Gott sein müssten. Das ist für jeden Menschen völlig unabweisbar, deshalb ist Jesus von Nazareth das personifizierte schlechte Gewissen jedes Menschen auf der Welt. Deshalb muss er jeden Tag neu getötet werden, indem man ihm zum Star macht. So und nur so kann man die Bedrohung, die von ihm ausgeht, aushalten.

 

Elfmal erzählen Sie Ihren Protagonisten neu. Das Ich ist damit nicht nur „ein anderer“, sondern „viele andere“. Welche Rolle spielt bei diesen Variationen der literarischen Selbst(er)findung „der liebe Gott“, auf den Sie ja wiederholt zurückgreifen?

 

Sie fragen danach, dass ich meinen Protagonisten elf mal neu erzähle. Mit dem lieben Gott hat das zumindest insofern zu tun, als dass er mich geschaffen hat und ich meinem Ich sicherlich nicht so vertrauen kann wie er. Deshalb möchte ich vorsichtshalber zumindest mehrere Versuche haben.

 

In Ihren Büchern finden sich Szenen, in denen das Erzähltempo verlangsamt, ja die Zeit beinahe angehalten wird. Ich denke etwa an die Annäherung des Protagonisten an Katja Melchior, die Sie in „Der Ort“ eingefangen haben. Der Sog der wechselseitigen Anziehung, die Bewegung der Körper auf einander zu, das scheinbar zufällige Zueinanderfinden, die flüchtige Dichte der Berührungen – das wird in Wendungen beschrieben, die geradezu an die Sprache der Mystik erinnern …

 

Es gibt einzelne Augenblicke, die werden wichtiger als in anderen Lebensphasen Monate oder Jahre. Unser Zeitbegriff und die Präsupposition, dass unser Leben linear vonstatten gehe, können dann etwas verdächtig erscheinen. Und Mystik: Da ist diese Leerstelle, die Tatsache, dass etwas fehlt – das wird dem Protagonisten in der Katja-Szene plötzlich klar. Bis eben war die Welt vollständig, jetzt fehlt etwas – und zwar das Wichtigste. Die Verwandtschaft zur unio im religiösen Sinn (bzw. ihrem schmerzlichen Fehlen) ist hier natürlich da.

Heimat ist ein Begriff, der für Ihr Werk „Ortsumgehung“ zentral ist. Der Begriff kann politisch vereinnahmt werden. Für manche ist er verpönt, weil er an Eichenschränke und Hirschgeweihe erinnern kann. Sie selbst haben einmal geschrieben: „Meine Heimat ist tot und ein Grab, sie hat sich dem Verschönerungs- und Umgehungsirrsinn an den Hals geworfen wie einer Erlösungsideologie, um endlich von sich selbst erlöst zu werden, durch Vernichtung.“ Das klingt beinahe, als wollten Sie einen Nachruf schreiben …

Das habe ich in einer Kolumne geschrieben. In einem Roman könnte ich das nicht schreiben, da sind die Begründungszusammenhänge strenger, im Übrigen muss man in einem Roman erzählen und sollte nichts behaupten. Heimat ist eine Vokabel, die ich eine Zeitlang polemisch benutzen konnte, als Anti-Metropolen-Berlin(-Prenzlberg)-Vokabel, und die ja für einen Moment von Edgar Reitz entschlackt war. Inzwischen wird es wieder ganz gefährlich mit diesem Begriff.

 

Sprachkritik spielt dennoch auch in Ihren Romanen eine Rolle. Ich denke etwa an „Die Straße“, wo im Fluss der Erzählung aufgedeckt wird, dass vorgestanzte Vokabulare von Zeitschriften wie Bravo das Erwachen erotischer Anziehung sprachlich regulieren – mit dem Effekt, dass eine Sprache für Erfahrungen von Liebe letztlich fehlt.

 

Ja, das stimmt schon, wir decken vieles frühzeitig mit einer Flut von Rede zu. Es wäre schön, wenn Literatur eine Art von Schweigen sein könnte. Ein beredtes Schweigen über das allgemeine Gerede. Aber das ist eine Utopie. Allerdings kann man mitten im Lärm Stille entstehen lassen. Also Stille durch Lärm. Das geht als Konzept von Literatur schon eher.

 

Ihren Vortrag bei der Wiener Poetikdozentur haben Sie überschrieben „Und Gott fiel die Leiter herab“. Könnten Sie abschließend einen Wink geben, wie Sie das Thema angehen werden?

 

Oje, auch wenn es sich um eine Poetikdozentur handelt: Ich habe keinen Vortrag über Literatur geschrieben. Literatur kommt darin überhaupt nicht vor. Ich habe nur über „Glauben“ geschrieben, Glauben die ganze Wittgensteinsche Leiter hoch und wieder herunter. Keine Exegese, nur der Versuch, meine persönliche Sprache zu „Glauben“ und „Gott“ mir selbst etwas verständlicher zu machen.

 

 

Zuletzt erschienen von Andreas Maier die Romane: "Der Kreis" (Suhrkamp, 2016) und "Der Ort" (Suhrkamp, 2015) sowie der Band "Mein Jahr ohne Udo Jürgens" (Suhrkamp, 2015), der Kolumnen des Autors versammelt.